Die neue Vitrine der Secession in der Westpassage der U-Bahnstation Karlsplatz wird eröffnet durch die Reihe Footnotes der Budapester Kuratorin Hajnalka Somogyi, in welcher sie sich programmatisch auf das räumliche Verhältnis vom Gebäude der Secession zum „Nebenraum“ der Vitrine bezieht, und somit räumliche Machtverhältnisse – auch in Bezug auf ihre verschiedenen Zugänglichkeiten und Öffentlichkeiten – thematisiert.
„Der Begriff ‚Fußnote’ kann verschiedene Bedeutungen haben. Zuerst einmal bezieht er sich auf spezifische Informationen, die nur diejenigen beachten, die sich besonders tiefgehend für die im Haupttext erörterten Themen interessieren. Allerdings kann die Fußnote eine spannendere Bedeutung bekommen, wenn der Text, der mit Fußnoten versehen werden soll, nicht unser eigener ist. In diesem Fall ähnelt das Schreiben von Fußnoten dem Schreiben von Anmerkungen mit Bleistift an den Rändern von Buchseiten – eine Geste, um (Gegen-)Meinungen zu notieren, Fragen zu formulieren; ein Keim(ling) für neue Ideen; die Anregungen dafür werden zufällig im Text gefunden, je nach den eigenen persönlichen Interessen. Nicht mehr nur Hintergrundinformation für Eingeweihte, eröffnet die Fußnote dann die Möglichkeit, Kommentare oder Fragen auszudrücken oder den Haupttext zu überschreiben. Dieser Prozess sagt ebensoviel über seine/n AutorIn wie über den Inhalt des mit Fußnoten versehenen Texts aus, der, sobald er in andere Hände gerät, seine/n LeserIn inspiriert, ärgert, unterstützt oder verwirrt.“ (Hajnalka Somogyi)
Die Westpassage ist bereits geprägt von dem Spannungsfeld zwischen Kunst (der Installation Ken Lums) und sozialen Randgruppen (eine Anlaufstelle der Streetworker befindet sich ebenso hier), das die Problematik des Karlsplatzes in seiner Vielfältigkeit zwischen dem Abgrund gesellschaftlicher Existenz und dem immer noch als elitär wahrgenommenen Anspruch von Kunst zeigt. Als Appendix der Institution Secession an einem Ort, der von etablierten Kulturinstitutionen gesäumt ist, stellt die in der Vitrine präsentierte Serie Footnotes eine konsequente Eröffnung des Themas dar, wie Vitrinen von Kunstinstitutionen und KünstlerInnen genutzt werden, und wie diese das Format eines üblichen Werberaums verlassen können.
Zbynek Baladrá
Glossary
29. 11. 2007 – 13. 4. 2008
Glossary ist ein Diagramm, das die ganze Wand des Schaukastens ausfüllt. Ein Mittel, um Konzepte, Ideen und Beziehungen visuell zu strukturieren.
Wenn man allerdings näher tritt, stellt man fest, dass die Art und Weise, wie diese Textmengen, die auf dem Poster erscheinen, und die grafischen Strukturen darum herum nicht unbedingt so verbunden sind, wie man es von einem Diagramm erwarten würde; das visuelle und kognitive Netz, das sich aus ihrer Konstellation ergibt, ist eher verwirrend, es fühlt sich an, als würde man auf die Gedanken von jemand anderem blicken, deren Fragmente und Ideensplitter durch Assoziationslinien verbunden sind.
Die Arbeit von Zbynek Baladrán suggeriert die Schönheit der Austauschbarkeit der Dinge und Konzepte. „Das Persönliche, das Gesellschaftliche und das Politische werden letztendlich vereint, Erinnerung und Vergessen werden ein Paar, und der Sinn des Ganzen wird diskreditiert; die Zukunft wird vorausgesagt und die Vergangenheit vergessen – obwohl man sich so sehr bemüht, sich zu erinnern.“
Miklós Erhardt
Fußnote zum nackten Leben – 26 Kartons, darin (vermutlich) alle Dinge, die ich derzeit besitze
26. 4. – 4. 9. 2008
In seinen Einzelprojekten wie auch in seiner Zusammenarbeit mit der Künstlergruppe Big Hope untersucht Erhardt das künstlerische Potential menschlicher Interaktion. Insbesondere angetrieben von seinem Interesse an persönlichen Sichtweisen, Erfahrungen und Geschichten, behandeln seine Arbeiten soziale Situationen und deren Bestandteile wie Immigration, Tourismus, Obdachlosigkeit und Wirtschaft im Allgemeinen. Oft nimmt er bei der Realisation eines Projekts die Rolle eines Vermittlers, Mitarbeiters oder Ermöglichers an, während er zugleich mit kritischer Aufmerksamkeit die Situationen reflektiert, die er selbst herstellt und beobachtet.
Das Projekt für die Vitrine der Secession ist, wie der Name sagt, eine „Fußnote zum nackten Leben“. Der Begriff des nackten Lebens, vor kurzem zum Unterthema der documenta 12 gewählt, bedeutet die „einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesen gemein ist“. (Giorgio Agamben, Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben)
Der Kommentar, den Erhardt mit seiner Arbeit abgibt, ist wie schon der Begriff zweischneidig. Einerseits ist die Arbeit von bitterer Ironie getragen, weil sowohl ihr Material als auch ihr Aussehen provisorisch und elend wirken: Man könnte sie mit Menschen in Verbindung bringen, denen einzig das Recht aufs nackte Leben verblieben ist (d.h. auch, aber nicht nur Flüchtlinge und Obdachlose).
Der Ort der Installation – eine Unterführung – ist selbst ein Durchgangs-(Un-)Ort der, obwohl er oft der einzige Schutzraum für aus der Gesellschaft Ausgestoßene ist, zugleich vom Staat genau überwacht und kontrolliert wird.
Andererseits ist das Projekt ein – nicht weniger ironisches – Experiment, zeigt es doch (vermutlich) alle Dinge des Künstlers. Diese persönliche Note bringt einen weiteren Aspekt auf das nackte Leben ins Spiel, der scheinbar alle politischen und sozialen Konnotatioen ausschließt: Welcher Dinge und welcher Illusionen muss man sich entledigen, um ans nackte Leben zu kommen? Lassen sie solche überhaupt bestimmen?
Sašo Sedlaček
Ö-U Immobilien
19. 9. – 9. 11. 2008
Der slowenische Künstler Sašo Sedlaček präsentiert in der Vitrine der Secession eine neue ortspezifische Arbeit. Im urbanen Raum, im Dienstleistungsgewerbe, im Gesetz und sogar im Weltraum entstehen immer wieder Nischen, die die Menschen vergessen oder nicht bedenken. Genau diese Nischen sucht Saso Sedlaček. Sein Hauptinteresse gilt offenkundig Dingen, die die Menschen übersehen, und der Art und Weise, wie diese Dinge noch einmal nutzbar gemacht werden können.
Man könnte sagen, Sedlačeks Arbeit besteht aus dem subversiven Recyceln wissenschaftlicher, rechtlicher oder technischer Tatsachen mittels kollaborativer Do-it-yourself-Methoden. Die letzten Projekte behandeln nutzlos gewordene Räume im Zusammenhang mit europäischer Geopolitik. Sedlaček wendet sich damit den geschichtsträchtigen und ambivalenten National-, Territorial- und Kulturbeziehungen in Zentraleuropa zu, und versucht diese mit seinen Mitteln neu zu denken, zu beleben und zu prägen.
Polemisch schreibt er: „Wahrscheinlich bezieht sich jede europäische Nation in ihrer Erinnerung auf ein Gebiet, das in der Vergangenheit bisweilen weit über die gegenwärtigen Grenzen hinausreichte. (…) So ist die Österreichisch-Ungarische Monarchie einer der historisch und kulturell wichtigsten Bezugspunkte für alle zentraleuropäischen Nationen. Mit seiner jüngsten ökonomischen und kulturellen Expansion in Territorien, die noch vor wenigen Jahren hinter dem Eisernen Vorhang lagen, zeigt uns Österreich, dass Österreich-Ungarn kein Ding der Vergangenheit ist. Heute muss man in Europa nicht mehr neue Staaten gründen oder Grenzen offiziell verschieben. Einfacher geht dies auch mit dem bloßen Umziehen von einer Wohnung in die nächste. Territorium ist nicht nur ein abstrakter Begriff. Auf persönlicher Ebene ist es vor allem eine Immobilie: Das individuelle Territorium heißt Haus oder Wohnung.“
Sedlaček’s Projekt bewirbt, auf diesen Überlegungen aufbauend, den Immobilienhandel. Ähnlich wie bei früheren Projekten macht er auf unscheinbare Orte und Strategien aufmerksam, die zum Schlüssel für zukünftige Entwicklungen in der Region werden können. Gleichzeitig findet er Wege, seine eigene Kunst zu bewerben. Handelt es sich um einen einmaligen künstlerischen Schachzug oder kann sein Wirken als stellvertretend für eine neue Strategie gesehen werden, die unsere zwiespältige Situation zum Nutzen aller verändert?
Als Werbetafel in der Vitrine der Secession wird Ö-U Immobilien zu einer Art urbaner Mimikry. Nachdem es Österreichs Hauptstadt direkt anspricht, artikuliert dieses letzte Projekt der Reihe Footnotes einmal mehr einen kritischen Kommentar zu den Zwangslagen der Stadt, indem es auf persönliche und unspektakuläre Weise – sozusagen kleingedruckt – die individuellen Aspekte städtischer und regionaler Entwicklungen ins Blickfeld rückt.